Mit Schattenseiten l(i)eben lernen

Mir fällt es sehr schwer, meine Schattenseiten zu akzeptieren. Das ist mir gestern klar geworden.

Lehne ich etwas ab, zeige ich eine Kante statt eine Rundung meines Selbst. An diesen Kanten kann man sich stoßen. Ich möchte am allerliebsten von allen gemocht werden und dass sich keiner an mir stößt oder verletzt. Die größte Wahrscheinlichkeit, das zu erreichen, ist, dass ich den Wünschen der Anderen entspreche, ihnen nicht widerspreche, keine Kritik übe ...

Was passiert, wenn ich das wirlich mache?

Ich handle zwangsläufig gegen mich selbst. Die nach außen gezeigte Rundung, nämlich dass sich keiner an mir stoßen kann, führt dazu, dass sich die Kante nach innen wölbt. An dieser Kante stoße ich mich dann. Ich verletze mich, wenn ich "Ja" sage, obwohl es nicht für mich stimmt und ich meine Grenzen damit verletze. Ich mache die berühmte Faust in der Tasche, bin unzufrieden, sammle Wut in mir an. Das ist ein ganz blödes Gefühl in der Magengegend, wie ein fester harter Ball, der drückt und schmerzt. Aus dem Gesichtspunkt der Psychosomatik sind solche unterdrückten Gefühle alles andere als gut für die Gesundheit.

Doch wie damit umgehen, wenn ich Angst habe, anzuecken?

Atmen. Zu meinen Sonnen- und meinen Schattenseiten stehen. Mich selbst versuchen zu verstehen, auch wenn mich sonst keiner versteht. Mir die gleichen Rechte zugestehen, die ich anderen zugestehen würde. Ich wünsche mir von anderen,

  • dass sie ehrlich ihre Meinung sagen
  • dass sie "Nein" sagen, wenn ich sie um etwas bitte, es für sie jedoch aus welchen Gründen auch immer nicht stimmt. Und sie dies auch noch dann sagen können, wenn sie bereits "Ja" sagten, sich diese Entscheidung aber verändert hat.

Mir selbst möchte ich diesen Raum auch geben. Es fällt mir schwer, weil ich etwas anderes gewohnt bin, doch ich will es lernen. Auf diesen Willen kommt es an.

Mit dem Wissen um meine Schattenseiten und indem ich sie akzeptiere und traue, sie zu zeigen, fällt der Schleier meiner (Selbst-)Täuschung. Nämlich, dass ich ein Mensch bin, den alle immer lieben und toll finden. Ein Mensch, auf den man nie wütend ist, ein Mensch, der nie verletzt und sich immer korrekt verhält. Der Schleier, auf dem steht: "Ich bin nur gut." und "Ich tue keiner Fliege etwas zuleide." und "Mit mir kann man alles machen."

Dieser Schleier - ungelüftet - ist von übler Wirkung wie schon oben beschrieben. Absolut ungesund fürs Ich, nicht wirklich authentisch und unehrlich zu anderen. Wie der Wolf, der einen Schafspelz trägt und darin fast umkommt, weil er sein wahres Ich verleugnet, nur damit andere sich vor ihm nicht fürchten.

Klar gibt es auch viele sanfte Schafe, die aus Schutz einen Wolfspelz überziehen, damit sie in Ruhe gelassen werden.

Was bin ich? Weder Schaf noch Wolf.

Ich möchte will die Anja Kolberg sein und zeigen, die ich bin, die ich fühle. Mal sanft - mal kratzbürstig, mal widerspenstig und zickig - mal liebevoll, mal traurig und wütend, mal authentisch und mal unecht, mal grüblerisch, mal pingelig - mal großzügig, mal offen und einladend - mal ablehend, mal lustig - mal missmutig, mal glücklich, mal flirtend - mal schüchtern, mal zweifelnd, manchmal großartig - manchmal unausstehlich, mal klein - mal groß, mal weinend, mal schreiend, mal beleidigt - mal beleidigend, mal verletzt - mal verletzend, mal bunt - mal grau, mal ermutigend - mal zerstörend, mal ängstlich - mal mutig, mal kommunikativ - mal still und leise, mal liebend - mal hassend, mal zuverlässig - mal im Stich lassend, mal intuitiv und mal kopfgesteuert, mal zärtlich und auch mal grob, mal boxend und mal streichelnd, mal stark und mal schwach, mal professionell - mal unerfahren, mal zuvorkommend und auch richtig frech. Mal mich selbst kritisierend - und hoffentlich immer öfter mich selbst liebend.

Der Schleier ist gelüftet. Darunter ist kein runder Ball, sondern ein Mensch mit Sonnen- und mit Schattenseiten. Eine Frau mit Rundungen und mit Ecken und Kanten.

Es ist nicht leicht für mich, damit umzugehen, dass sich an meinen Kanten andere stoßen könnten, denn ich will andere keinesfalls verletzen oder ihnen Leid zufügen. Doch das lässt sich nicht vermeiden, so gerne ich es auch wegzaubern möchte. Jeder - ich und auch die Menschen, mit denen ich in Kontakt bin - lernt, mit den Ecken und Kanten der anderen zu leben.

Ich würde lügen, zu behaupten, es ist ein Klacks für mich, wenn mir andere einen Korb geben oder Kritik an mir üben, mein Handeln in Frage stellen. Doch nur mit der Beschäftigung und Auseinandersetzung mit diesem Thema lerne und erfahre ich, dass Kritik oder ein "Nein" keine Ablehnung meiner Person ist, sondern mein Gegenüber zu sich selbst, zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen steht. Spüren, geliebt zu werden, obwohl ich widerspreche, obwohl ich wütend bin, verletzend oder das Gegenteil von dem mache, was andere von mir erwarten.

Geliebt werden und dazu gehören, weil ich bin, wer und wie ich bin. Andere lieben, weil sie zu sich stehen und sich so zeigen wie sie sind, auch wenn das unbequem ist.

Atmen.

Ich traue mich immer mehr, ich selbst zu sein.

Anja Kolberg

Erstellt durch: Anja Kolberg am Donnerstag, 02 September, 2010
Thema: Blog - 2010, 2. Halbjahr, Blog - Mich selbst annehmen
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