Hochsensibilität

Ich bin hochsensibel und auf dem Weg, mich damit besser zu verstehen und anzunehmen.

Erste Berührungspunkte
2007 oder 2008 stieß ich das erste Mal auf den Begriff Hochsensible Personen (HSP). Der Begriff stammt von der amerikanischen Psychologin Elaine N. Aron. Sie schätzt ca. 15% der Menschen als hochsensibel ein. Ein Segen, ich bin nicht alleine. :o)

Durch das Ausfüllen des Tests der Gesellschaft zur Förderung und Pflege der Belange hochempfindlicher Menschen - Zart besaitet konnte ich meine Empfindungen einordnen. Denn ich kenne es ja nicht, so zu empfinden wie andere. Das Innenleben lässt sich nicht vergleichen wie eine andere Haarfarbe. Hätte ich blaue Haare, wäre die Sache viel offensichtlicher. :o) Bisher war mir auch nicht klar, dass andere weniger aufnehmen als ich.

Die Forschung steckt lt. Zart besaitet noch in den Kinderschuhen, aber die Testergebnisse könnten Anhaltspunkte und Tendenzen liefern. Mit 300 Punkten lag ich am oberen Ende der Skala, schon ab 163 Punkten gehört man zu den Hochsensiblen Personen. Ich glaube durch meine Umstellung auf eine möglichst pflanzliche Ernährung bin ich noch empfindsamer geworden, denn bei meinem heutigen Test landete ich bei 310 Punkten. Wobei Tagesverfassung und Gesundheitszustand meine Einschätzungen und Wertungen im Test beeinflussen und zu schwankenden Ergebnissen führen.

Was bedeutet Hochsensibilität?
Hochsensible nehmen mehr und intensiver wahr als andere Menschen, erfuhr ich. Da jeder nur eine bestimmte Menge an Reizen - z.B. Lärm, große Menschenmengen, dauerhafte Musikberieselung, Geruch oder Innenreize wie Gefühle, Schmerzen... - verträgt, damit es ihm noch gut geht, ist das Maß beim Hochsensiblen früher voll, weil er mehr wahrnimmt. Er verträgt also nicht weniger, sondern nimmt aufgrund seines sehr empfindlichen Nervensystems mehr wahr (und ist dadurch schneller gestresst, müde, überfordert). Es geht nicht um besser oder schlechter - eher um anders. Unterschiedliche Situationen brauchen Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten.

Was nehme ich bei mir wahr?
Ich kann nicht eindeutig sagen, was zu einer Hochsensibilität gehört, was vom Charakter beeinflusst ist oder da ist wegen der eigenen Geschichte.

Dennoch möchte ich es gerne beschreiben: Ich empfinde meine intensive Wahrnehmung zum Teil sehr anstrengend im Alltag. Das grelle Neonlicht im Supermarkt, große Menschenmengen auf engem Raum, die vielen Eindrücke in Einkaufscentern, plötzliche Geräusche ermüden mich, nehmen mir Energie und bringen mich aus dem Gleichgewicht. Ich bin sehr schreckhaft.

Während andere die Dinge locker nehmen, kann ich es nicht. Ich bin ängstlich, sehr schmerzempfindlich und leicht innerlich verletzlich. Ich brauche ganz bestimmte Rahmenbedingungen, um mich wohl zu fühlen und brauche Zeit nur mit mir alleine, um in Ruhe - am liebsten in der Natur oder einer schönen Umgebung - meine Energiereserven wieder aufzufüllen.

Ich kann in bestimmten Situationen extrovertiert, fröhlich, lustig, mitreißend und ausgelassen sein, bin aber je nach Umgebung genau das Gegenteil und ziehe mich zurück. Ich habe den Anspruch an mich, alles richtig zu machen und mir ist es wichtig, andere nicht bewusst seelisch zu verletzen und dies unbedingt zu vermeiden. Löse ich dennoch bei einem anderen Traurigkeit oder andere schmerzliche Gefühle aus, ist das schlimm für mich. Ich bin gefangen in meinen Gefühlen, Selbstzweifeln, Schuld.

Die Gefühle anderer Menschen nehme ich wahr, wenn ich in ihr Gesicht schaue oder sie beobachte. Dann spüre ich, ob es ihnen gut oder schlecht geht, ob sie krank sind, Sorgen haben oder unzufrieden sind. Natürlich prüfe ich das nicht, in dem ich die Menschen frage, doch ich habe von meiner Therapeutin erfahren, dass Spiegelneuronen im Gehirn dafür sorgen, ich kann meiner Empathie vertrauen.

Wenn mein Mann sich verletzt und ich sehe das oder er zeigt mir seine Brandwunde, spüre ich einen tiefen, stechenden Schmerz. Mir fällt eine Begebenheit ein, wo ich sah, dass es unserem Hund nicht gut ging, mein Mann dies jedoch abwiegelte. Kurz darauf erbrach sich unser Hund.

Meine Empfindlichkeit ist auch abhängig von meiner körperlichen Verfassung, zu Beginn meiner Regel bin ich extrem empfindlich. Ich habe ich das Gefühl doppelt so viel zu hören wie sonst, Berührungen schmerzen fast. Ich muss dann sehr auf mich achten, mich ausruhen und zurück ziehen, damit es mir gut geht.

Schlechte Saiten
Es gibt Zeiten, da fällt es mir schwer, dieser Hochsensibilität etwas positives abzugewinnen. Besonders, wenn ich mal wieder sehr empfindlich reagiere und ich mir wünsche, doch einfach cool zu sein und die Dinge entspannter zu sehen, dies aber einfach (und auch schwer) nicht geht. Zum Beispiel wenn andere in meiner Gegenwart schlechte Laune haben, sich ablehnend und gereizt mir gegenüber äußern. Es gibt Momente, in denen ich solche Situationen verlassen kann, oft ist das aber nicht mögich. Für einen hochsensiblen Menschen wie mich, der eine angenehme Stimmung braucht und ein gutes Gefühl, um sich wohl zu fühlen und wenig Stress zu haben, eine sehr schwierige und anstrengende Sache.

Obwohl ich verstandesgemäß weiß, die Stimmung des anderen bedeutet nicht gleichzeitig, ich bin Verursacher dessen Stimmung (sondern sie hat mit ihm selbst zu tun), bekomme ich diese Gefühle ab und fühle mich unwohl in deren Gesellschaft. Es gibt Menschen - mein Mann gehört zu ihnen - denen macht es kaum etwas aus, wenn ein anderer miese Stimmung hat. Er kann sich davon gut abgrenzen. Dann wünsche ich mir, genau so zu sein, die Gefühle anderer nicht an mich ran zu lassen, mich davon nicht beeinflussen zu lassen, nicht an mir zu zweifeln und mich nicht schuldig zu fühlen. (Eben zu sein wie ich nicht bin.)

Selbstzweifel machen das Leben nicht leichter, besonders wenn ich mich wie das hässliche Entlein - einfach am falschen Platz fühle. Dabei geht es darum, mich selbst anzunehmen wie ich bin. Nicht leicht... Da liegt jede Menge Lernpotenzial und obwohl ich schon intensiv seit Jahren an mir arbeite und reflektiere, sind immer noch Baustellen da. Ich bezweifle auch, dass alle Probleme jemals aufhören werden. Schließlich - so ist meine Auffassung - bin ich als Seele hier auf der Erde, um zu lernen und zu reifen.

Ich glaube schon, dass es mir mit der Zeit immer besser gelingt, mich abzugrenzen und zu entscheiden, was ich aufnehmen möchte und was nicht und da ist mir auch schon vieles gelungen. Ich lasse heute den Anspruch an mich los, alles auf einmal zu lösen. (Und damit be-frei-t zu sein. Denn diese Empfindsamkeit gehört zu mir und lässt sich nicht wegzaubern. Obwohl ich vermute, sie lässt sich durch Medikamente oder Drogen unterdrücken oder abschwächen - allerdings keine Optionen für mich.)

Guten Saiten
Es gibt auch positive Seiten. Juchuuuu! Für meine Arbeit als Coach kann ich meine Empathie erfolgreich einsetzen und auch bei der Gestaltung meiner Kalender spielen sie eine Rolle. Denn darin fließen so viele meiner Ressourcen, Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken ein. (Du kannst sie vor Weihnachten in meinem Online-Shop kaufen, vielleicht gibt es während des Jahres noch welche bei Amazon.). Zart besaitet hat eine schöne Präsentation erstellt, in der sie die Stärken der Hochsensiblen beschreiben:

Feine, detailreiche Wahrnehmung. Intensive Vorstellungskraft, visionär, Schönheit & Harmonie sind ihnen wichtig. Denken in komplexen Zusammenhängen. Sie sehen Querverbindungen, die anderen nicht auffallen. Meist haben sie hohe ethische Standards, achten auf Minderheiten und fühlen sich dem Allgemeinwohl verpflichtet.

Es tut gut, mir die guten Seiten bewusst vor Augen zu führen, gerade wenn ich mit den anstrengenden Seiten konfrontiert bin.

Mir fiel beim Betrachten der Präsentation ein, wie wichtig mir als Kind schon Gerechtigkeit war und die kleinsten und schwächsten zu schützen. Nicht umsonst haben wir einen Hund, der im Wurf übrig geblieben ist, weil er einen Geburtsfehler hatte. Natürlich wollte ich genau den!

Weitere Informationen: Zart besaitet - Informations- und Forschungsverbundes Hochsensibilität e.V. - Wikipedia über Hochsensibilität

Diesen Artikel habe ich unzählige Male begonnen. Endlich, heute - am 17.11.2011 - habe ich ihn fertig gestellt. Ich bin so froh, habe ich mich durch das Schreiben noch intensiver verstanden. Und mich selbst verstehen - das fühlt sich an wie nach Hause kommen!

Von Herzen,

Anja Kolberg

Wenn Sie auf diesen Beitrag hinweisen möchten, können Sie einen Link hierhin setzen: https://www.frauencoaching.de/archives/2011/11/entry_6701.html Das Nutzen der Inhalte außerhalb dieser Webseite erlaube ich nicht.

Erstellt durch: Anja Kolberg am Donnerstag, 17 November, 2011
Thema: Blog - 2011, 2. Halbjahr, Blog - Lieblingsartikel, Blog - Psychologie
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